Anna Strnadová
Was verbindet Sie mit Gablonz an der Neiße?
Ich wurde hier geboren. Ursprünglich ist mein Vater aus Gablonz, meine Mutter kommt aus Prag und ist hierhergezogen. Aber ich und mein Bruder sind schon von klein an hier in Gablonz aufgewachsen.
Wie war Ihr Weg zu dem örtlichen Kurbad?
Meine erste Erfahrung, dass man hier im öffentlichen Raum etwas machen kann, verdanke ich dem Umstand, dass mein Bruder und ich den Verein Gablonz ohne Glücksspiel gegründet haben. So haben wir in einem Bereich außerhalb der kulturellen Sphäre begonnen, unser Ziel war es, Glücksspiellokale und Casinos aus Gablonz zu beseitigen. Und das ist uns gelungen! Wir haben das auf eine sehr aktivistische Art und Weise gemacht. Es gelang uns, in Gablonz ein Referendum zu veranstalten, wo abgestimmt wurde, diese Casinos zu verbieten. Das war ein sehr grundlegender Moment für mich. Weil wir die Petition losgetreten hatten, mussten wir Menschen auf der Straße auch ansprechen. Das begann mir Spaß zu machen und ich sagte mir, dass der Mensch sich nicht nur zu Hause verkriechen, in die Schule und wieder zurück nach Hause gehen soll, sondern in diesem öffentlichen Raum auch irgendwie Begegnungen erleben könnte. Und dann Äpfelkurbad, das war ein weiteres Projekt. Für Kurbäder begann ich mich im Jahr 2015 auf Anregung einer Freundin zu interessieren. Wir suchten einen interessanten Raum für ein gemeinsames Projekt, sie ist Tänzerin und ich habe auch eine Tanzschule in Gablonz besucht. Noch vor dem ersten Besuch hat uns der Verwalter beschrieben, was alles in dem Kurbad auseinanderfällt, dass es sich eigentlich in einem verfallenen Zustand befindet und dass dort sicher nichts stattfinden kann. Mit zwei weiteren Freundinnen haben wir dann den Verein ArtproProstor gegründet, damit wir eine rechtliche Grundlage haben, und die Stadt mit uns als Partner kommuniziert. Wir suchten um eine Liste von Dingen an, die getan werden mussten, damit dort eines unserer Events stattfinden konnte (ursprünglich planten wir nur eine Einzelaktion). Diese Liste war ziemlich lang und schwierig zu erfüllen, zum Beispiel mussten wir einen Aufzug zum Schwimmbad einbauen, was eine Aufgabe für ein halbes Jahr war. Weil wir schon so viel Energie in das Projekt investiert-en, vereinbarten wir mit der Stadt ein halbjähriges Mietverhältnis und hofften, dass sie es uns danach verlängern würden, was jedoch nicht geschah.
Wie ist die Geschichte des Kurhauses? Und warum ist dieser Raum für Sie interessant?
Das Kurhaus wurde Anfang des 20. Jahrhundert gebaut. Es war Liebe auf den ersten Blick. Von außen ist das Gebäude nicht sehr schön, weil die Fassade während der kommunistischen Zeit versaut wurde, es wurde viel baulich verunstaltet. Aber wenn man reingeht, dann fühlt man so richtig die alten Zeiten. Es hat eine einzigartige Atmosphäre, einen ähnlichen Raum sah ich noch nie. Damals baute man die Kurhäuser in antikem Stil, mit einem Gewölbe, der Raum ist sehr großzügig, die Halle ist riesig, große Fenster, das Licht spielt da wunderbar. Während des Kommunismus kümmerte sich niemand wirklich um das Gebäude, es wurde eher so geflickt, also sind da so bizarre Sachen zu finden wie industrielle Lampen, die aus der Vorderseite der Fassade herausstechen, die wunderschönen Fliesen wurden mit Linoleum bedeckt und so weiter. Aber als Ganzes wirkt es doch immer noch sehr angenehm. Man musste da zwar viel aufräumen, die Staubberge, manchmal sogar Schutt, abtragen, aber mir taugte es auch schon so wie es war.
Inspirierten Sie sich vielleicht irgendwo im Ausland? Eine kulturelle Veranstaltung im Schwimmbecken ist in Tschechien nicht gerade geläufig…
Als wir anfingen, war ich gerade das zweite Jahr an der Uni und ich war damals 21. Aus heutiger Sicht muss ich sagen, wir waren richtig mutig, wir hatten ja gar keine Erfahrungen. Ich kannte ein paar solcher Orte, aber es waren keineswegs Kurorte. Mit der Zeit fand ich verschiedene Inspirationsquellen. Ich weiß zum Beispiel, dass es irgend so ein Kurbad in Berlin gibt. Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es irgendwie langfristiger lief, oder ob es nur ein kurzfristiges Projekt war. Am Anfang stürzten wir uns so richtig in das Projekt, erst nach einem Jahr gelang es uns, dem Neuen Netz beizutreten, eine Prager Organisation, die regionale Kultureinrichtungen, die auf innovative Weise Kunst vermitteln, unterstützt.
Was war das ursprüngliche Ziel — auf die Architektur aufmerksam machen, oder das Leben in der Stadt anzukurbeln?
Einerseits verspürten wir die Absenz eines unabhängigen Kulturraumes, der sich Experimenten, zeitgenössischem Theater, zeitgenössischer Kunst, Diskussionen oder kleinen Theaterformen widmen würde. Heutzutage gibt es so etwas in der ganzen Republik, in Prag überhaupt, aber in Gablonz gab es damals so was nicht und wir bemühen uns bis heute darum. Ich will nicht sagen, dass es hier gar nichts gibt, wir haben hier zum Beispiel den Klub Na Rampě (Auf der Rampe). Aber so etwas wie einen offenen gemeinschaftlichen Raum, wo die Menschen hingehen könnten zum Kaffee trinken, studieren oder lesen, mit Veranstaltungen am Abend, so etwas gibt es hier einfach nicht. Und dadurch, dass wir mit den Veranstaltungen im Kurhaus angefangen haben, das wirklich einen außerordentlichen Raum bietet, gelang es uns, auch das zweite nicht weniger wichtige Ziel zu erreichen, nämlich das Gebäude wiederzubeleben und auf den schlechten Zustand aufmerksam zu machen, in dem es sich befindet. Wir wollten das Gebäude retten, indem wir der erste Startfunke sind in einer längeren Kette, denn das Haus ist wirklich riesengroß, und dessen Rekonstruktion wird, wenn sie irgendwann gelingt, sehr kostenaufwendig sein.
Was gelang Ihnen im Kurhaus und welche Reaktionen löste es aus?
Zur ersten Veranstaltung kamen die meisten Besucher, weil das Kurhaus zum erstenmal seit langer Zeit geöffnet war, vor allem viele ältere Menschen interessierten sich dafür, wie die Räumlichkeiten heute aussahen. Das war unser selbstinszeniertes Tanztheaterprojekt, bei dem wir mit der ortsspezifischen Methode die Geschichte dieses Gebäudes beschrieben. Und dabei war interessant, dass so viele Menschen da waren, die sich für das Gebäude interessierten, denen wir nun eine Kunstrichtung zeigen konnten, die sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht kannten. Und dann schlossen wir mit Theaterstücken an — Depresivní děti touží po penězích [Depressive Kinder sehnen sich nach Geld], Listování [Das Blättern], ein Etüdenabend der Studentenden des hamu, Bewegungstheater, ein Konzert von Ridina Ahmed und Petra Ticha mit Tanzbegleitung… Wir veranstalteten hier Design Märkte und zu denen dachten wir uns immer irgendwelche selbstinszenierten Dinge aus, meistens etwas mit Tanz. So verging das halbe Jahr und dann sagte man uns, dass das Mietverhältnis nicht verlängert wird. Dass wir aber weiterhin vereinzelte Events veranstalten können, für jede Veranstaltung müssen wir extra um Anmietung des Raumes ansuchen, die Schlüssel abholen, alle Dinge hinbringen und nach der Veranstaltung abtransportieren… Das war tödlich, weil wir das alles in unserer Freizeit gemacht haben, freiwillig, und weil das produktionstechnisch schrecklich anspruchsvoll war. Nach einem weiteren dreiviertel Jahr sagte die Stadt „nein“, es wäre ein Teil vom Dach heruntergefallen und man repariere das gerade. Wir haben also gewartet, hatten ein Programm vorbereitet, aber als wir drei Monate später nochmals nachfragten, da sagte man uns, dass dort ein Zutrittsverbot verhängt wird, dass es einfach gefährlich sei. Das Gebäude wurde geschlossen, damit man damit keine weiteren Sorgen hatte. Die letzten zwei Veranstaltungen dort fanden im Sommer 2020 statt und das auch nur weil die Piraten für neun Monate im gablonzer Rathaus saßen und mit ihnen der Architekt Jakub Chuchlik in die Position des Abteilungsleiters für Regionalentwicklung gelangte, er hatte mit uns von Anfang an zusammengearbeitet und übernahm die Verantwortung. Dank ihm fand dort im Rahmen des Projekts Monumentum ein Konzert von Lenka Dusilova mit Videoprojektionen von VJ Aeldryna statt. Und auch das Event Nádech pro lázně [Einatmen fürs Kurhaus], für das wir zwölf regionale Künstler aus Gablonz und Reichenberg aufriefen, auf irgendeine Art und Weise ihre persönlichen Gefühle und Gedanken zum Kurhaus zu gestalten.
Haben Ihre Veranstaltungen Interesse geweckt, sodass sich Ihnen Leute anschließen und helfen wollten?
Es entstand dort ein Team, aber immer noch auf freiwilliger Basis. Zahlreiche Leute haben geholfen, aber kaum jemand übernahm Verantwortung für einen konkreten Bereich. Aber dank freiwilligen Arbeitseinsätzen, zu denen wir über Facebook Leute zur Mithilfe aufriefen, kamen viele Menschen und manche von denen sind Teil des Kernteams geworden. Es halfen uns wahnsinnig viele Gablonzer aus dem kreativen Sektor, zum Beispiel Honza Picko oder Kuba Chuchlik, die uns als Architekten bei dem Bau des Aufzugs zur Hand gingen, Ota Novotny half uns mit der Statik. Viele von ihnen arbeiteten gratis oder für symbolische Beträge. Dank dessen konnte das alles geschehen.
Schlussendlich mussten sie das Kurhaus also ganz verlassen? Wie entwickelt sich die Situation jetzt dort?
Nach den neun Monaten, die die Piraten im Rathaus waren, passierte irgendein politisches Hick-Hack, sie traten ab und nach zwei Monaten erhielten wir ein Schreiben, dass auf Basis statischer Gutachten das Kurhaus erneut geschlossen wird. Ich habe zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, dass dieser Kampf schrecklich viel Anstrengung kosten und der Effekt minimal sein wird, wenn wir keine Partner im Rathaus haben. Wir haben das immer aus einer aktivistischen, freiwilligen, begeisterten Position heraus gemacht. Aber damit das funktionieren konnte, benötigten wir irgendeinen starken Partner, idealer Weise die Stadt. Und in dem Moment, in dem die Stadt Eigentümer des Gebäudes ist, muss es die Stadt sein. Also haben wir uns gesagt, dass es in dieser Konstellation keinen Sinn hat und wir sehen werden, wie sich das in der Zukunft entwickeln wird. Die Gruppe um das Kurhaus begann langsam zu bröckeln. Aber jetzt ist es uns gelungen — dank langfristiger Zusammenarbeit mit den örtlichen Falken (Turnverein) — das Vereinshaus der Falken als neuen Raum zu vereinbaren. Was ein Paradoxon ist, weil dieses Haus etwa hundert Meter vom Kurhaus entfernt ist. Es handelt sich um ein schönes Gebäude, das der Turnverein baute — der deutsche Turnverband, aus dem später die eigentlichen Falken hervorgingen. Das ist eine Rarität in der Tschechischen Republik, dass es sich hier um ein Vereinshaus handelt, das sich die Falken nicht selbst gebaut haben, sondern die deutschen Bewohner, genauer gesagt der deutsche Turnverband. Die Falken übernahmen das Haus erst im Jahr 1946. So zeigt sich also in der Geschichte des Gebäudes ziemlich schön die bewegte Geschichte des Sudetenlandes. Vor etwa drei Jahren begann die Architektin Jitka Skalicka das Gebäude wiederzubeleben, sie ist die Tochter der Vorsitzenden der Falken. Sie hat sich bemüht, dort verschiedene Veranstaltungen zu organisieren, Gelder zu beschaffen und kleinere Reparaturen durchzuführen. Das Gebäude ist auch riesig. Jitka und ich kennen einander schon länger und kamen einfach zum Schluss, dass wir am besten unsere Kräfte vereinen, dieses eine Gebäude nehmen und uns hier um Wiederbelebung bemühen. So versuchen wir dort einen neuen Raum für kulturelle Veranstaltungen namens Nazdar zu schaffen. Im Vereinshaus der Falken ist das gesamte Untergeschoss leer, schöne Räumlichkeiten mit gewölbten Decken. Wir fangen schrittweise an, zwei Räumlichkeiten haben wir, aus denen wir einen Theatersaal und ein Hinterzimmer machen wollen, aber es gibt dort großes Potential für Erweiterungen. Auf einmal haben wir mit eben den Besitzern des Gebäudes einen neuen Partner — die Falken sind dem zugeneigt und es ist eine völlig andere Zusammenarbeit.
Viele Leute hätten nach dieser ersten schlechten Erfahrung aufgegeben, woher nehmen Sie die Motivation?
Nach dem Misserfolg mit dem Kurhaus, wo ein Jahr sehr intensive Anstrengung einfach so für die Katz war, brauchte ich über ein Jahr, bis ich das irgendwie verarbeitet hatte. Ich habe eine große Müdigkeit gefühlt. Ich habe mich anderer Arbeit und anderen Projekten gewidmet, aber in mir blieb ein furchtbar starkes Gefühl zurück, das mich bei den weiteren Unternehmungen stark beeinflusste. Die Energie, die am Anfang des Kurhauses entstand — dass Leute Lust hatten dort gratis zu helfen, aufzuräumen, statische Berechnungen durchzuführen, Hinweise gaben, mit der grafischen Gestaltung halfen… Das war für mich ein wirklich starker Moment, in dem ich unserer Gesellschaft gegenüber zur Optimistin wurde. Ich sagte mir, also geht es doch! Und diesen Optimismus trage ich immer noch in mir und habe das Verlangen, so etwas erneut zu erleben.
Würden Sie heute etwas anders machen? Haben Sie etwas herausgefunden, womit Sie am Anfang nicht gerechnet haben?
Ich war reichlich unwissend darin, was es heißt so ein Projekt zu starten — organisatorisch und vom Management her. Wir begannen etwa mit dem Bau der Treppen und hatten keinerlei Erfahrung mit so etwas. Wenn wir gewusst hätten, was das alles mit sich bringt, dann hätten wir gar nicht erst begonnen. Jetzt bin ich in der Lage zu sagen: Wir beginnen nicht sofort damit, zehn Räumlichkeiten gleichzeitig umzubauen, sondern wir klopfen mal den Putz ab und sehen dann weiter. Als wir begonnen haben, waren wir zu zwölft — und wie man so sagt, in der Jugend stürzt man sich Kopf über in die Dinge und ist auch kompromissloser bei Verhandlungen. Ich sage nicht, dass ich jetzt ein großer Diplomat bin, aber vielleicht würde ich das Treffen mit der Stadt heute etwas anders handhaben. Ich bin damit dort hingekommen: „Schaut, wir sind hier, wir wollen hier Kultur schaffen und ihr müsst uns das Kurhaus geben, weil das einfach eine tolle Veranstaltung ist.“ Aber diese politische und bürokratische Welt funktioniert vollkommen anders. Wie oft habe ich ihnen dort beschrieben, was wir machen wollen. Nur sind dort Leute, die eine ähnliche Veranstaltung noch nie erlebt haben, deshalb haben wir einander nicht verstanden. Wenn der Mensch irgendetwas erreichen möchte, muss er sich vor Augen führen, wer ihm gegenüber sitzt
und dementsprechend wählen, auf welche Weise er spricht.
Sie haben gesagt, dass ins Kurhaus auch Leute kamen, denen es um das Gebäude, die Architektur und die Geschichte ging. Was würden Sie sagen, macht die Geschichte dieses Gebäudes aus?
Ich muss sagen, dass es schrittweise dazu kam. Die erste Veranstaltung, die wir im Kurhaus hatten, erzählte die Geschichte des Gebäudes. Wir bemühtem uns, Kontakt zu Leuten aufzubauen, die dort als Rettungsschwimmer arbeiteten, irgendwelche Fotos aus den Archiven zu kriegen…Das war, denke ich, ein sehr starkes Bindeglied. Das weitere Programm wich dann schon etwas davon ab. Wenn wir gewusst hätten, dass wir den Raum für zehn Jahre haben, hätten wir uns irgendein langfristiges dramaturgisches Konzept ausgedacht. Jetzt, wenn wir die Dramaturgie für Nazdar im Vereinshaus der Falken erarbeiten, ist das für mich eines der wichtigsten Themen. Orte, wo man zeitgenössisches Theater oder bildende Kunst antrifft, gibt es schon genug. Aber worin ich großes Potential sehe, ist die Aufarbeitung der Geschichte von Städten und ähnlichen Orten, weil darüber in Gablonz kaum öffentlich gesprochen wird. Wir haben hier zum Beispiel das Haus des deutsch-tschechischen Verständnisses, aber das hat eher die älteren Generationen als Zielgruppe. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass es hier in Gablonz immer noch zahlreiche ältere Bewohner gibt, für die diese deutsch-tschechische Frage ein sehr sensibles Thema ist. Also muss man daran mit viel Demut herantreten. Das bedeutet aber nicht, dass keine Diskussion stattfinden sollte. Ich denke, dass hier in Gablonz eine lebendigere Art der Geschichtsaufarbeitung sehr fehlt. Es ist interessant, dass Gablonz nicht einmal ein eigenes Museum zur Stadtgeschichte hat. Es gibt hier ein Glas- und Schmuckmuseum, das sich aber nicht auf die Stadt fokussiert, sondern auf die Industrie.
Dabei ist die Glas- und Schmucktradition verbunden mit den ursprünglich überwiegend deutschen Bewohnern. Es ist interessant, dass sich die Geschichte nur auf den Produktionsprozess beschränkt…
Es ist so, dieses Gedenken gibt es hier nicht. Und ich wäre wirklich froh, es im Rahmen dieses Projektes zu initiieren.
Das ist ein großes Thema — wie fördert man bei jungen Leuten ein Gefühl für die Geschichte der Stadt?
In dem man Wege und Kunstformen auswählt, die ihnen nahe sind. Zum Beispiel gibt es im Theater zahlreiche Formen, die nicht mehr verlangen, dass der Mensch sich ins Theater setzt und eineinhalb Stunden lang eine Vorstellung ansieht. Man kann einen Schauspieler nehmen und in den Straßen der Stadt Geschichten darstellen. Eine sehr interessante Sache entstand in Reichenberg (ich denke, dass es von der Gruppe Krutý krtek stammt) — es gab einen etwa zweistündigen Spaziergang mit zwei Schauspielern, die Zuschauer trugen Koffer mit Requisiten und man machte an verschiedenen Orten halt, die irgendeine interessante deutsch-tschechische Geschichte hatten. Heute sind diese Geschichten für die Menschen Unterhaltung. Und deshalb denke ich mir, dass es sehr wichtig ist, einen Raum in der Stadt zu haben, der eine aktuelle Sprache spricht. Vor nicht allzu langem bin ich mir bewusst geworden, dass wir in der Schule die Geschichte unserer Stadt eigentlich gar nicht durchgenommen haben, was eigentlich seltsam ist. Als Kinder leben wir an irgendeinem Ort, vier Jahre lang lernen wir am Gymnasium etwas über
Preußen und Österreich, Kriege und so weiter, aber die wahre Geschichte unserer eigenen Stadt kennen wir nicht.
Bearbeiten Sie für sich selbst irgendwelche spirituellen Themen? Wenn es darum geht, sich mit dem Ort, an dem man lebt, auseinanderzusetzen — oder geht es bei diesem öffentlichen Engegement um irgendwelche individuellen Werte?
Dank diesen Projekten habe ich begonnen, an die energetische Verbindung zwischen Menschen zu glauben. Jeder von uns hat eine Energie und wir können uns um etwas bemühen, aber wenn es uns gelingt, miteinander mental in Verbindung zu treten, ist das für mich ein spirituelles Erlebnis. Wenn wir vormittags im Kurhaus mit zehn anderen Leuten bei der Jause sitzen, ein Informatiker, ein Jurist, ein Tänzer und ich weiß nicht, wer noch alles und wir sind irgendwie miteinander im Einklang, dann ist das für mich ein spirituelles Erlebnis. Das gibt mir Kraft, weitere Projekte zu beginnen. Und ich glaube daran, dass, wenn ich es so erlebe, es auch teilen kann. Dann können das auch andere erleben und das kann für viele Leute erbaulich sein.
Sind Sie im Kurhaus oder im Vereinshaus der Falken auf irgendeine Geschichte gestoßen, die Sie gefesselt hat?
Als wir einmal im Kurhaus aufräumten, hörten wir ein Klopfen an der Tür. Ich ging um zu öffnen — das war während der Zeit, als wir eine Radiokampagne auf Hithit hatten und Geld für die Treppen sammelten. Ich öffnete und da stand eine ältere Dame, drückte mir einen Fünfhunderter in die Hand (ca. 20 Euro) und sagte: „Na, nehmen Sie das, nehmen Sie das.“ Ich fragte sie, ob sie reinkommen wollte, aber sie verneinte, meinte nur: „Mir gefällt sehr, was Sie hier machen, also nehmen Sie und ich geh.“ Das war sehr eindrucksvoll für mich. Und die Herangehensweise von Jitka Skalicka, die sich um die Wiederbelebung des Vereinshauses der Falken bemüht, ist für mich sehr stark. Sie hat zusätzliche Nähe dazu durch ihre Mutter, die Vorsitzende der Falken ist. Sie sagte sich, dass sie zu einer Sitzung hingeht. Die Mitglieder sind siebzig und älter, also jagen sie nichts Neuem mehr hinterher. Aber sie geht immer hin und sagt, dass sie Fördermittel erhalten hat und dass die Tür repariert wird und die Woche darauf, dass sie eine Subvention genehmigt bekam und dass ein neues Mosaik gemacht wird. Wenn Sie in die Eingangshalle kommen, ist dort am Boden ein Mosaik, das schrecklich lange mit Leinen bedeckt und ganz kaputt war. Und Jitka gelang es, Geld für die Reparatur zu erhalten. Das Mosaik befindet sich an einem speziellen Ort… Das Vereinshaus der Falken hat so ein Türmchen mit einem Raum, der zu allen Seiten Fenster hat, von dort kann man ganz Gablonz sehen. Diese Woche rief mich Jitka an und sagte: „Stell dir vor wir haben im Untergeschoss, im Haushaltsraum einen Brunnen gefunden. Wir haben ihn freigelegt, ich habe die Baupläne angeschaut und herausgefunden, dass er genau so ausgerichtet ist wie das Mosaik und das Türmchen.“ Und sie fügte hinzu: „Ich weiß nicht, ob das ein Zufall ist. Ich habe mir dazu schon so eine Legende zurechtgelegt, dass unten im Gebäude Wasser das vorherrschende Element ist, dann Stein in Form des Mosaiks, oben dann das Türmchen mit dem Element Luft und am Dach des Türmchens befindet sich der Blitzableiter, also Feuer.“ Diese Gebäude sind insofern interessant, als dass man dort Geschichten entdecken kann, durch die uns unsere dortigen Vorgänger irgendwelche versteckten Botschaften hinterlassen haben können.
Wenn wir über die Grenzregionen sprechen, können wir die Beziehung zwischen Tschechen und Deutschen nicht aussparen. Nehmen Sie dieses Thema in Ihrem Umfeld irgendwie wahr?
Ehrlich gesagt, in Gablonz nehme ich das nicht besonders wahr. Ich gebe zu, dass ich die Aktivitäten des Hauses für deutsch-tschechisch Verständigung nicht verfolge, noch nie habe ich an einer der Exkursionen teilgenommen. Ich weiß, dass unser Gymnasium mit einem anderen in Deutschland freundschaftliche Beziehungen pflegte, es gab Austauschaufenthalte. Aber wie uns das Zusammenleben gelingt? Es ist nicht wirklich ein Zusammenleben, weil es hier einfach keine Deutschen mehr gibt. Manchmal kommen welche her, um ihre Häuser anzusehen. Und darum ranken sich solche Geschichten, dass sie sich heimlich in den Garten schleichen und einen Schatz ausgraben, den sie vor der Vertreibung dort versteckt hatten. Aber ich denke mir, dass es hier noch viele Möglichkeiten gibt, um Zusammenarbeit zu initiieren. Es ist immer eine Bereicherung, seine Bubble zu verlassen, die Staatsgrenzen zu überschreiten, sich kennen zu lernen. Das beugt auch Streitereien vor. Je besser wir uns kennenlernen und miteinander kommunizieren, desto mehr Streitigkeiten lassen sich aus dem Weg räumen. Ich für meinen Teil würde so etwas gerne initiieren, aber leider habe ich das Gefühl, dass wir im Sudetenland noch ein paar Jahre warten müssen. Ich habe das Gefühl, dass dieses Thema jetzt ein bisschen ans Licht tritt, dass man beginnt, über das Sudetenland zu sprechen, junge Menschen werden darauf aufmerksam. Und das wird die Basis sein für den wechselseitigen Austausch. Man wird dort einen Vermittler brauchen, der darin nicht emotional involviert ist und in der Lage ist, die Sache mit Abstand zu betrachten. Aber ich denke, dass das kommen wird. Darum mache ich mir keine Sorgen.
Jetzt sprachen wir über Vergangenheit und über Versöhnung, wie wird es Ihrer Meinung nach in fünfzig Jahren im Sudetenland aussehen? Was würden Sie sich für Ihre Region wünschen?
Am meisten würde ich mir wünschen, dass die ältere Generation keine Angst hätte, etwas für den öffentlichen Raum und die Gemeinschaft zu tun. Dass ein Interesse für die Stadt, für den öffentlichen Raum der Stadt und ihrer Geschichte entstehen würde. Dass es immer junge Menschen geben würde, die die Stadt verschönern wollen, weil sie sich bewusst sind, dass es ihre Stadt ist. Dass sie hier Wurzeln schlagen. Nicht solche, die rausgerissen werden, sondern solche, die gepflegt werden — sodass diese möglichst stark werden und verbinden und sich ausbreiten.